Pädagogik
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"Tulpengarten" und Entdeckendes Lernen
In diesem Text möchte ich Entdeckendes Lernen, wie
es im Pädagogischen Ansatz beschrieben wird, und die realen Erfahrungen
der 1. Saison in den verschiedenen Tulpengärten miteinander in Beziehung
setzen. In den einzelnen Projekten vor Ort ist es gelungen, die abstrakten
Prinzipien lebendig werden zu
lassen
und unter ganz unterschiedlichen Bedingungen zu erproben. Aber viele
Fragen sind noch offen.
Entdeckendes Lernen - "eigene" Fragen - Fragen im Kontext
Gleich am Anfang des Projekts kam die Frage auf, ob es
überhaupt Entdeckendes Lernen sei, wenn wir alle derselben Pflanzanleitung
mit derselben Tulpensorte folgten, denn bisher haben wir beim Entdeckenden
Lernen großen
Wert auf die "eigene"
Frage gelegt. Besonders beliebt war in der Vorbereitungsgruppe die Aktivität
"Was wäre, wenn..." mit ihrer Aufforderung, eigene Experimente
zu eigenen Fragen
anzulegen
und ungewöhnliche Wege des Herausfindens zu gehen. Es wurde beispielsweise
erörtert, Tulpen im Mai zu pflanzen, um zu sehen was passieren würde,
und vieles mehr. (Im Mai wurden keine Tulpenzwiebel verkauft - warum
nicht?)
Was aber passierte, als das Projekt im größeren
Kreis begann? Sofort wurden wir mit Fragen bombadiert, von wann bis wann
denn
überhaupt Tulpen gepflanzt werden könnten. In den Vordergrund
trat, dass dieses Projekt, wenn es mit den Kindern schon einmal begonnen
werden
würde, auch ein Erfolg werden sollte. Jahrelanges Experimentieren
zum Herausfinden des richtigen Zeitpunkts war nicht gefragt. Vielmehr
wurde vorhandenes Wissen über das Pflanzen
von Tulpen aktualisiert und zur Diskussion gestellt. Und es wurden Informationsfragen gestellt,
um den Kontext für das Projekt zu
klären.
Die meisten ließen sich auf die vorgegebenen Bedingungen
- Tulpensorte, Pflanztiefe, Pflege - ein. Es entstanden jedoch aus
der Arbeit und dem jeweiligen Kontext heraus produktive
Fragen,
die sich auf diese Bedingungen bezogen und durch Beobachtungen und Experimente
bearbeitet
werden konnten,
z.B.:
- "Was
passiert wohl, wenn ich die Tulpen nicht ganz so tief einpflanze?"
- "Wir
haben noch nie
gemulcht - sollen wir es jetzt mal machen? Und wann? Und was passiert
dann mit den Tulpen?"
- "Wie wird sich der warme Herbst und
Winteranfang auswirken?"
- "Erfrieren die Tulpen
nicht, wenn es schneit?"
- und vieles mehr.
Die Vorgaben haben es also nicht verhindert, dass eigene Fragen
gestellt worden sind, sondern haben für solche Fragen eine konkrete,
handhabbare Grundlage geschaffen.
Entdeckendes Lernen und kindliche Ideen über Tulpen und
Wachstum
Nur
wenige Kinder hatten am Anfang eine Vorstellung davon, was mit den Tulpen
den Winter über in der Erde passiert. Die meisten
nahmen an, die Tulpen würden erfrieren. Dass Tulpen unter dem Schnee
wachsen würden, konnten sie nicht glauben, auch nicht, dass es im
Erdboden wärmer sein könnte als in der kalten Winterluft.
Tatsächlich sind alle Tulpen kräftig gewachsen und aufgeblüht
und auch erneuter Schneefall, nachdem sich die ersten grünen Spitzen
gezeigt haben, hat ihnen nichts ausgemacht. Die Kinder haben diesen Prozess
beobachten können - teilweise durch Ausgraben der Pflanzen - und dokumentiert.
Hier stehen noch weitere Experimente für die nächste Saison an,
beispeilsweise soll die Erdtemperatur genauer gemessen und aufgezeichnet
werden. Auch ist noch unklar, welche Wärmesumme die Tulpen bis zum Aufblühen
brauchen. Dafür wurden zu wenige Daten gesammelt und die gesamte Fragestellung
erschien den Beteiligten doch recht abstrakt.
Einige Kinder sind der Frage nachgegangen, was Tulpen
von den in Schulbüchern immer wieder genannten Faktoren - Wasser, Licht,
Erde - denn nun wirklich zum Wachstum brauchen. Manche Experimente verschwanden
mangels Erfolg einfach aus unserem Blickfeld, bei anderen zeigten sich
unerwartete Phänomene. So wurden Tulpen zu viel gegossen und anschließend
von "Tieren" aufgefressen, andere zerfielen in der Erde.
Misserfolge auszuhalten und den anderen mitzuteilen, fällt
sicher nicht leicht. Aber den anderen, die ähnliche Ideen und Vermutungen
hatten, darüber zu berichten, wäre in Zukunft wunderbar!
Insgesamt haben wir ein großes Interesse am Experimentieren
festgestellt und es sind oft beeindruckende Vorgehensweisen ausgeklügelt
worden.
Tulpen(garten) und persönliche Bedeutung für die einzelnen
Kindern
Bei der Entwicklung unseres Projekts gab es manche Zweifel,
ob die Kinder und Jugendlichen überhaupt über einen längeren Zeitraum
Interesse an den Tulpen haben würden. Tatsächlich hat es zwei Gruppen
gegeben, die nur schwer zu motivieren waren und denen die Tulpen offensichtlich
ziemlich egal waren.
Viele Kinder haben eine Beziehung zu "ihrer" Tulpe
hergestellt, indem sie ihr einen Namen gegeben haben. Im Laufe der Arbeit
verschwanden viele Namen aber aus den Mitteilungen, vielleicht weil sie
nicht ursächlich
am Wachstum beteiligt waren. Manchmal tauchten die Namen wieder auf,
als die Tulpen sich über der Erde zeigten und ihr Wachstum mit Interesse
- auch in Konkurrenz zu anderen Tulpen? - dokumentiert werden konnte.
Besonders die kleineren Kinder hatten im Winter Angst
um ihre Tulpe und versuchten, ihre eigenen Erfahrungen mit Frieren, Wärmen,
Hülle, Schutz, usw. auf die Tulpe zu übertragen. Hier ist Raum für weitere
Erfahrungen und Erkundungen.
Das Aufblühen der Tulpen hat (fast) überall große Begeisterung
und Erleichterung ausgelöst, vielleicht mit der Tendenz, alle Fragen
und Zweifel - auch die produktiven - im Nachhinein zu vergessen.
Die Vorgänge in anderen Tulpengärten waren interessant,
wenn sie den eigenen Erfahrungen ähnelten oder wenn sie Rätsel aufgaben.
Manche Kinder erhofften sich einen schnellen Kontakt über das Internet
bzw. über e-Mail, scheiterten aber an schlechten Verbindungen und falsch
geschriebenen Adressen und oft einfach daran, dass gerade niemand zum
Antworten da war.
Herausforderung durch vorgegebene Fragestellungen
Die übergreifende Fragestellung für alle - mit Hilfe der
wachsenden und aufblühenden Tulpen die Ankunft des Frühling vorherzusagen und
diese Vorhersage aus geografischen und klimatischen Daten zu begründen
- war aus vielerlei Gründen schwer zu bearbeiten:
- Der Herbst und Winteranfang 2003 waren ungewöhnlich milde. Es war
unklar, wie sich dieses Wetter auf die Tulpenzwiebeln auswirken würde.
- Es gab für Mitteleuropa kaum Anhaltspunkte aus früheren Versuchen,
wann sich die Tulpen wo zeigen würden.
- Die ersten grünen Spitzen kamen nicht dort aus der Erde, wo sie vermutet
wurden - im Süden -, sondern im Norden.
- Die ersten grünen Spitzen zeigten sich viel früher als
es nach den vorhandenen Klimadiagrammen zu erwarten gewesen wäre.
- Es kamen Zweifel auf, ob denn alle alles richtig gemacht hatten.
- Es wurden nicht alle Daten sofort mitgeteilt, so dass immer noch
einmal neu nachgedacht werden musste.
Die zusätzlichen Fragen an alle wurden nur von wenigen
Klassen untersucht.
Es ist deshalb schwer zu sagen, ob die übergreifenden
Fragestellungen generell nicht so interessant waren oder ob sie zu schwer
zu untersuchen waren. Bei der gemeinsamen Auswertung im September würden
wir gerne von den beteiligten
Erwachsenen
mehr über
diesen Problemkomplex
erfahren, um besser vorbereitet in die nächste Saison zu starten.
Ich habe zur Zeit folgende Fragen und Ideen:
- Mehr Beteiligte würden die statistische Basis für die Phänomene verbessern,
so dass es nicht so sehr ins Gewicht fallen würde, wenn der eine oder
andere Standort nicht ganz passend wäre.
Gibt es mehr Interessierte?
- Auf den Daten der Saison 2003/2004 kann aufgebaut werden. Sie geben
für unsere Region zumindest erste Anhaltspunkte dafür, wann die Tulpen
aufblühen könnten.
Gibt es schon Ideen, welche Schlussfolgerungen wir hinsichtlich der
klimatischen Aspekte ziehen können?
- Der Umgang mit der Website, den Berichten, den Fragen, den Daten
ist nicht mehr so neu und ungewohnt, so dass es einfacher wird, sich
zu beteiligen.
Was können/sollen wir verbessern? Wie kann es einen direkteren und
schnelleren Austausch geben?
- Die Experimentierkompetenz der Kinder ist mit Sicherheit gewachsen.
Was möchten die Kinder untersuchen? Welche Schlussfolgerungen haben
sie aus den Erfahrungen
gezogen? Welche Vermutungen und Erklärungen sollen aufgegriffen werden?
Was wissen sie inzwischen über Untersuchungsmethoden? Was ist ihnen daran
wichtig und einsichtig? Was nicht?
- Was war wichtiger - die eigene Frage oder die gemeinsame?
Internet und Entdeckendes Lernen
Für dieses Projekt war es notwendig, die Kompetenz zu
entwickeln, mit dem Internet und seinen "Beiprogrammen" - e-Mail, PDF,
Bildbearbeitung, Excel, dynamischen Formularen - aktiv umgehen zu können.
Als diejenige, bei der die meisten Fragen dazu, aber auch fast alle Produkte
eingegangen sind, konnte ich im Laufe der Zeit ein erstaunliches Anwachsen
dieser Kompetenzen feststellen. PC-Räume wurden regelmäßig benutzt, Kinder
legten sich eigene e-mail-Adressen zu, um selbständig kommunizieren zu
können, mir wurden interessante Links zugeschickt und von Internet-Recherchen
in den Klassen berichtet, und es gingen immer mehr sorgfältig illustrierte,
umfangreiche Berichte ein. Trotzdem waren immer die wirklichen Tulpen
das, worum es ging.
Alle Befürchtungen, dass sich Entdeckendes Lernen im Cyberspace
verflüchtigen könnte, waren gegenstandslos. Aber wir werden daran arbeiten
müssen, den Computer noch besser als professionelles Werkzeug nutzen
zu lernen, ohne eine einzige unserer realen Fragen und Untersuchungen
aufzugeben.
Karin Ernst
September 2004
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